Neheim. „Zurückblickend sieht man, dass man den Menschen nicht nur Hilfe gibt, sondern von ihnen auch viel zurückbekommt.“ Das sagt Fora Dicke, Schülerin der Jahrgangsstufe 11 des Neheimer St. Ursula-Gymnasiums, wenn sie von ihren Erfahrungen mit erwachsenen behinderten Menschen im Rahmen des Compassion-Projektes berichtet.
„Sehr reflektiert“
Das zweiwöchige Compassion-Projekt ist schon seit vielen Jahren ein fester Bestandteil des Lernkonzeptes des SUG und soll die Schülerinnen und Schüler in ihrer sozialen Kompetenz bestärken. Im Rahmen des Projektes, dass sowohl im Vorfeld auch im Nachhinein in den Fächern Deutsch und Religion in den Unterricht miteinbezogen ist, besuchen die Schüler zwei Wochen eine Einrichtung, die sie selber ausgewählt haben. Die Schülerin Flora Dicke der Jahrgangsstufe 11 war im Februar bei der „Camphill Dorfgemeinschaft Sellen e.V.“ Flora Dicke hat, so Uwe Bischoff vom SUG, „ihre persönliche Erfahrungen während des Sozialprojektes sehr reflektiert dargestellt“. Hier ihr Bericht:
Die Camphill Dorfgemeinschaft in Sellen ist eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit erwachsenen behinderten Menschen – den Seelenpflegebedürftigen – die auch Dörfler genannt werden. Das Anliegen im gemeinsamen Leben und Arbeiten ist, dass unterschiedliche Fähigkeiten zusammengeführt werden. Dort, wo die Dörfler Unterstützung benötigen, ergänzen die Mitarbeiter, so dass immer ein Ganzes entsteht und erlebt werden kann. Durch das gemeinsame Wohnen entwickeln sich familiäre Verhältnisse. Ich habe mich deswegen für ein Praktikum in einer Camphill-Einrichtung entschieden, weil ich denke, dass die Grundidee, dass „alle Menschen, ob mit oder ohne behinderungsbedingten Einschränkungen, vollwertige Persönlichkeiten sind und ein Recht auf ein ausgefülltes und sinnvolles Leben in Freiheit und Würde haben“, dem Sinn des „Compassion“-Projekts entspricht und ich mich von den grundsätzlichen Ansätzen der Anthroposophie angesprochen fühle.
In Sellen gibt es eine biologisch-dynamische Landwirtschaft und Gärtnerei, eine Demeter-Bäckerei, und eine Kerzen- und Textilwerkstatt sowie 9 Wohnhäuser, in denen die Dörfler mit ihren Hausverantwortlichen in Hausgemeinschaften zusammenleben. Die Betreuten sollen so ein ihren Fähigkeiten gemäßes, möglichst selbstständiges Leben führen können.
In den zwei Wochen meines Sozialpraktikums habe ich in der Bäckerei gearbeitet. Dort konnte ich selber erleben, wie das Konzept von Camphill umgesetzt wird. Direkt am ersten Tag wurde mir ans Herz gelegt, dass es grundsätzlich nicht darum geht, dass die Herstellung möglichst schnell geht oder das Ergebnis perfekt wird – vielmehr geht es um den Schaffensprozess und das Produkt, welches man hergestellt hat. So war es immer schön zu sehen, wie sich eine der Angestellten, die unter anderem nicht sprechen kann und auch nur ein begrenztes Verständnis hat, allen ganz stolz die Plätzchen zeigte, die sie gebacken hat, und sich darüber sehr lange freute.
In den ersten Tagen habe ich viele neue Gesichter gesehen, wurde – manchmal auch mit stürmischen Umarmungen – begrüßt, ausgefragt, wer ich bin, woher ich komme und wie lange ich bleibe. Man wird sehr herzlich in die Gemeinschaft aufgenommen und in das Leben und Arbeiten mit einbezogen, sodass anfängliche Berührungsängste schnell verflogen waren. In der Bäckerei war fortwährend gute Stimmung und es gab immer was zu lachen – was nicht zuletzt an einigen der Mitarbeiter lag. Der Umgang der Dörfler untereinander war auch interessant zu beobachten, während man sich selber zum Beispiel nicht getraut hat, dem Mitarbeiter neben einem zu sagen, dass er doch bitte mit seinem konstanten Gebrabbel aufhören soll, weil man denkt, dass er ja nichts dafür kann und man nicht genervt sein sollte, kommt ein weiterer Dörfler in den Raum und sagt nach ein paar Sekunden entnervt, dass er doch bitte damit aufhören soll.
In meiner Zeit bei Camphill habe ich sehr viele Erfahrungen sammeln können, man übernimmt Verantwortung und lernt, nicht nur anderen zu helfen, sondern auch seine eigene Gesundheit zu schätzen. So sieht man zurückblickend, dass man den Menschen nicht nur Hilfe gibt, sondern von ihnen auch viel zurückbekommt. Ich denke, dass das gemeinsame Leben und Arbeiten für die Dörfler sehr förderlich ist, und habe den Eindruck, dass in der Gemeinschaft alle ein erfülltes Leben haben und man ihren besonderen Ansprüchen gerecht wird.
Flora Dicke